Ein besonderes Kunstwerk

Sechs Meter über dem Boden hängt der Englische Gruß (= Engelsgruß) frei, mitten im Kirchenchor von St. Lorenz in Nürnberg (Abb. 1). Das gesamte Gefüge erweckt den Eindruck fragil und schwerelos zu sein, aber tatsächlich ist es beinahe tonnenschwer. Die Körper der Hauptfiguren muten lebensgroß an, dabei sind sie mit ca. 2,20 Meter sogar größer. Einer materialisierten Erscheinung gleich offenbart sich das Ereignis der Verkündigung und ist doch eine künstlerische Illusion. Der Englische Gruß, 1517 von Anton II. Tucher an den bedeutenden Bildhauer Veit Stoß in Auftrag gegeben und im Juli 1518 fertiggestellt, ist eine komplexe, genauestens kalkulierte Inszenierung.

Abb. 1: © Sarah Nienas

Das Kernthema des Kunstwerks lässt sich uns schnell erschließen, denn es handelt von einer zentralen Szene des christlichen Glaubens, die ich so zusammenfasse: Überrascht, aber zugleich voller Ahnung vernimmt Maria die Ankunft des Erzengels Gabriel, der von links kommend an sie herantritt. Dessen Mund ist zum Sprechen geöffnet. Seine Botschaft wird Maria zur Mutter Gottes und zur Königin des Himmels erheben. Sie ist die Auserwählte, mit ihr wird sich Gott in menschlicher Gestalt inkarnieren – zu Fleisch werden. Er, Gott selbst, wacht an höchster Position über die Verwirklichung seines Plans. Während goldene Strahlen von ihm ausgehen und sich der Heilige Geist in Gestalt einer weißen Taube auf Maria niederlässt, vollzieht sich die Verkündigung des Herrn: Das Wort wird Fleisch. Zentrales christliches Thema ist hier die Verkündigung an Maria, jenes Ereignis, das mit der Empfängnis und Inkarnation den Beginn des christologischen Heilsgeschehens markiert.

Die Verkündigungsszene des Englischen Grußes wird von einem goldenen Blütenkranz gerahmt, der untrennbar mit der heiligen Botschaft verknüpft ist, weil auch er als Verbildlichung des im Spätmittelalter hoch populären Rosenkranzgebetes die Grußworte des Engels rezitiert. Mit der Veranschaulichung des komplexen Gebetssystems ist das Kunstwerk Ausdruck einer Frömmigkeitspraktik.

Eine innovative Rauminstallation

Im Gegensatz zu Tafeln oder Schreinen, ist die Architektur von St. Lorenz nicht nur neben dem Kunstwerk sichtbar, sondern durch die offene Struktur des Englischen Grußes hindurch. Ich finde, die Architektur wird auf diese Weise zu einem dynamischen Hintergrund, der sich mit jedem Schritt verändert, wenn wir uns als Betrachtende durch den Kirchenraum bewegen – dabei den Blick immer in die Höhe gerichtet, meist direkt in die Obergadenfenster, also die höchste Fensterreihung. Sie bestanden 1517/1518 großflächig aus klaren Butzenscheiben, die nur partiell mit zierender Glasmalerei versehen waren. Ähnlich wie heute, drang viel Tageslicht in den Hallenchor. Bunter sind die Fenster in der Chorachse, mittig unten die Kaiserstiftung und direkt darüber das (heute veränderte) Ratsfenster – jenes Nürnberger Rates, dessen höchstes Amt der Auftraggeber Anton II. Tucher als sogenannter Vorderster Losunger innehatte. In dieser prestigeträchtigen Fensterachse, und damit seinen Auftraggeber nobilitierend, baut sich frontal davor der Englische Gruß auf.

Der Chor ist der hellste Ort der Kirche. Das reiche Licht, das durch die Fenster in den Raum fällt, hüllt die Figuren, weil von hinten beleuchtet, in diffuses Licht. Kontrastierend dazu war von vorn das warme, flackernde Kerzenlicht vom Marienleuchter, der zum Auftrag des Englischen Grußes gehört. Der Chor, der den Hauptaltar beherbergt, ist aber vor allem liturgisch wichtigster Teil der Kirche und war in St. Lorenz ohne Abschrankung offen einsehbar.

Der Englische Gruß bezieht also ganz wesentlich mit ein, was schwierig formal zu beschreiben ist: Die Luft, den Raum und das Licht. Was aber genauso zur Materialisierung gehört, ist die farbige, sogenannte polychrome Gestaltung der Oberflächen.

In Gold und leuchtenden Farben

Die polychrome Erstfassung des Englischen Grußes, 1970–1971 freigelegt, gehört zu den am besten erhaltenen des Spätmittelalters. Dennoch hat auch hier die Farbintensität gelitten und es fehlen viele Schmuckelemente. Die ursprüngliche Wirkung ist also letztlich immer ein Stück weit verloren.

Abb. 2: © Sarah Nienas

Der erste Eindruck des Englischen Grußes ist geprägt von großflächigen Vergoldungen und farbigen Flächen, primär in Blau und Rot. Die Kombination dieser drei „Farben“ ist charakteristisch für die spätmittelalterliche Fassungen, also Oberflächengestaltungen der Skulptur. Konsequent ist die Entscheidung Maria, als bedeutendste Figur, in diesen Farbenkanon zu hüllen (Abb. 2). Sie trägt ein rotes Kleid und einen Mantel, der ein matt-blaues (Azurit) Innenfutter mit einer glänzend-goldenen Außenseite zeigt. Das ist eine typische Kombination für Mäntel von Marienskulpturen dieser Zeit. Der Kontrast von Blau und Gold sowie Matt und Glänzend erzeugt Spannung, bei der die blaue Partie noch leuchtender, tiefer wirkt (heute verblasst) und die goldene noch heller, glatter. Dieses bewusste Nebeneinandersetzen verschiedener Flächen bildet das grundlegende Gestaltungsprinzip spätmittelalterlicher Polychromie. Damit ist auch das zentrale Thema meiner Doktorarbeit skizziert, der ich mich 2020–2021 während meines Forschungsaufenthaltes als Tucher-Fellow in Nürnberg gewidmet habe. Bereits 2018 war ich bei der Reinigung des Englischen Grußes dabei und konnte währenddessen dem Werk so nah kommen, wie es sonst nie möglich ist.  Das war eine beeindruckende Erfahrung auf den Spuren von Veit Stoß. Ich habe Details studiert und eine umfassende Fotodokumentation erstellt, die Teil meiner Dissertation ist.

Abb. 3: © Sarah Nienas

Schaut man sich die Polychromie am Englischen Gruß genauer an, eröffnet sich eine bemerkenswerte Differenzierung und Variation der Oberflächengestaltung, erzielt nicht allein durch Farbgebung oder Kontraste. Das wird am deutlichsten an den liturgischen Gewändern des Erzengels Gabriels sichtbar, die fast vollständig vergoldet sind. Um die Kleidungsstücke unterscheidbar zu machen, ist die Textur der Oberfläche unterschiedlich strukturiert. Hierfür fanden vor allem Graviertechniken und Applikationen Anwendung. Mit Gravuren direkt in den Kreidegrund, also noch unter der Vergoldung, wurden florale und ornamentale Borten hergestellt. Sie schmücken die Rückseite des goldenen Rosenkranzes und die Gewandsäume der Mäntel (Abb. 3). Ein Granatapfelmotiv ziert den Rücken des Erzengels. Zur unverkennbar spätmittelalterlichen Dekoration gehört das sogenannte Pressbrokat, eine Schmuckapplikation. Weil es sehr fragil ist, hat sich davon nur sehr wenig erhalten. Vergoldete Sonnen und Lilien schmückten die Innenfutter der Mäntel von Gabriel und Maria (Abb. 4).

Abb. 4: © Sarah Nienas

Die hohe Qualität der Fassung konnte nur mit der ebenso hohen bildhauerischen Qualität zur optimalen Wirkung kommen. So erwecken die unterschiedlich dick geschnitzten Stofflagen den Eindruck schwerer oder leichter Textilien. Dieses Zusammenspiel war bestmöglich realisierbar, weil ein übergeordnetes, in sich geschlossenes Konzept die Ausführung aller Arbeitsschritte bestimmen konnte. Wer grundsätzlich für die Fassungen von Skulpturen verantwortlich war, lässt sich nicht allgemeingültig beantworten. In diesem konkreten Fall war Veit Stoß aber wohl für alle Arbeitsschritte verantwortlich. Vielleicht kann man sich diese Rolle als künstlerische Leitung vorstellen. Wobei Veit Stoß auch persönlich als Bildhauer und Fassmaler tätig war.

Was also leistet die Farbe für das Werk? Die reiche, polychrome Oberfläche, die durch vielfältige Glanz- und Leuchteffekte bestimmt ist, verhilft den Figuren dazu zu leuchten. Technisch gesehen handelt es sich um eine reflektierende Oberfläche, die das Licht zum Auge des Betrachters zurückwirft. Es musste bei mittelalterlichen Betrachtenden aber auch der Eindruck entstehen, die Körper seien selbst Quelle des Lichts. In diesem konkreten Sinn unterstützt die Wahl des Materials der Skulpturen eine suggerierte Entmaterialisierung der heiligen Körper, die man sich als Körper des Lichts vorstellte, so wie auch das Zeichen der Mandorla, also die rahmende Form des Englischen Grußes, als Lichterscheinung verstanden wurde. Auch Engel galten als reine Geistwesen, als materieloses reines Licht. Wie man sich Maria, die Körper der Heiligen oder im Allgemeinen den auferstandenen Leib vorzustellen hatte, das war im Mittelalter eine viel diskutierte Frage. Immer war dabei allerdings der Transzendenz die Transparenz zugeordnet. Eine phänomenale Lichterscheinung, die das beinahe fünf Mal fünf Meter große Kunstwerk geradezu entmaterialisiert, konnte ich an einem Sonnenaufgang im Sommer 2018 erleben und, soweit mir bekannt ist, erstmals fotografieren (Abb. 5).

Abb. 5: © Sarah Nienas

Im größtmöglichen Kontrast zur Beschaffenheit der leuchtenden, scheinbar schwerelosen Körper der Figuren, steht ihre Menschlichkeit. Die Hautpartien sind farblich sehr zart modelliert. Präzise aufgemalte Details ergänzen die Polychromie. Sowohl technisch als auch künstlerisch meisterhaft sind die Augen ausgeführt. Die Gestalt des Auges ist in feinen Pinselstrichen wiedergegeben, dabei ist das obere Lid dunkler als das untere – eine Demonstration der Berücksichtigung von Licht und Schatten. Künstlerisch erstrangig sind die gemalten Lichtreflexionen in der Iris der Figuren, selbst bei den kleinen Engeln über den beiden Hauptfiguren. Die Reflexionen erwecken den Eindruck, dass sich das Licht, das durch den Kirchenraum flutet, darin spiegelt (Abb. 6). Anders als das sonst als weißer Punkt gemalte Licht, erinnert die Reflexion in den Augen Gabriels an ein durch ein Kreuzgerüst geteiltes Fenster. Hier können wir eine ganz besondere künstlerische Raffinesse beobachten: Denn die dreidimensionale Skulptur reflektiert das Licht ohnehin. Die aufgemalte Lichtreflexion ist im höchsten Sinne künstlich. Veit Stoß hat damit auch seine Kenntnisse über Natur demonstriert. Der Künstler ist nicht der Erste, der gemalte Lichtreflexionen in sein Werk integriert, es sei etwa an seinen berühmten Nürnberger Kollegen Albrecht Dürer erinnert. Vergleiche dieser Art beziehen sich jedoch auf die Malerei. Die gemalte Lichtreflexion auf der Oberfläche einer Skulptur ist meines Wissens am Englischen Gruß ein Novum.

Abb. 6: © Sarah Nienas

Zu Ruhm und Ehren

Abschließend lässt sich Folgendes zusammenfassen: Wir dürfen nicht vergessen, wie ungewöhnlich es zur Zeit der Entstehung war, ein Werk dieser Größe frei hängend zu installieren. Mit dieser außergewöhnlichen Realisierung hatte der Englische Gruß das Potenzial zu verwirren, zu erstaunen und bei den Gläubigen auf bemerkenswerte Weise ein sakrales Erleben anzuregen. Es kann kein Zweifel daran bestehen, dass Anton II. Tucher und Veit Stoß sich im völligen Bewusstsein dieser Inszenierung waren. Absicht des höchsten Amtsinhabers Nürnbergs dürfte gewesen sein, eine visuelle Repräsentation des Rosenkranzgebetes zu schaffen, um die Marienfrömmigkeit zu lenken, zu stärken und in St. Lorenz einen Ort der Marienverehrung zu etablieren. Darüber hinaus war die Beauftragung eines solchen Kunstwerks im Kirchenraum immer zugleich auch eine religiöse Stiftung. Für Tucher war damit der Wunsch der eigenen Heilsabsicherung und gesellschaftlichen Repräsentation verbunden. In diesem Zusammenhang ließe sich noch einiges mehr über die spezielle, sehr interessante Konkurrenzsituation der Stifter, Künstler und Kunstgattungen in St. Lorenz sagen. Bis 1518 war der Chor bereits mit vielen bedeutenden Stiftungen gefüllt, die auch in künstlerischer Hinsicht herausragend waren, wie beispielweise das Sakramentshaus (gestiftet von Hans IV. Imhoff, 1493–1496 ausgeführt von Adam Kraft). Die mehr als selbstbewusste Positionierung des Englischen Grußes überragte entschlossen alles andere im Kirchenraum und war eine Demonstration zweier herausragender Persönlichkeiten, deren Namen bis heute untrennbar zum Werk gehören.

 

Zum Weiterlesen:

Sarah Nienas, Die Materialisierte Erscheinung. Aspekte zu Raum und Polychromie des Englisches Grusses von Veit Stoss, in: 500 Jahre Engelsgruß in St. Lorenz Nürnberg, hrsg. v. Ev.-Luth. Kirchengemeinde St. Lorenz Nürnberg, Nürnberg 2018, S. 63–83