Im Interview mit den Organisatoren, Romedio Schmitz-Esser und Alicia Wolff, spricht Florian Abe, wissenschaftlicher Referent der Tucher Kulturstiftung, über die Ziele und Ergebnisse der Veranstaltung. Welche neuen Perspektiven konnten gewonnen werden? Und warum ist der Bericht für die Forschung und ein breites Publikum nach mehr als 500 Jahren noch so spannend?

Abb. 1 Hans VI. Tucher, Reise in das Gelobte Land, Druckvorlage, um 1481/82 (Stadtarchiv Nürnberg, E29/III, 11)

Florian Abe: Herr Schmitz-Esser, Frau Wolff, wie kamen Sie auf die Idee, eine Tagung speziell zum Reisebericht des Hans Tucher zu organisieren? Gab es einen besonderen Anlass oder eine persönliche Verbindung?

Alicia Wolff: Während der Arbeit an meiner Doktorarbeit stieß ich auf das Pilgerhandbuch des Hans Tucher. Die Berichte der Zeit ähneln sich oft, da die Verfasser nach ihrer Heimkehr auf gängige Pilgerführer zurückgriffen und darauf aufbauend nur die Heiligen Stätten und die dort zu erlangenden Ablässe beschrieben. Über ihre Erlebnisse gaben die Pilger nur wenig preis. Besonders wertvoll für die Forschung sind deshalb die Berichte mit einer individuellen Note – und die Aufzeichnungen Hans Tuchers gehören genau in diese Kategorie. Das Schriftstück ist als Handbuch konzipiert und bot den Zeitgenossen detaillierte Anweisungen zur Planung und Durchführung einer Pilgerfahrt gegen Ende des 15. Jahrhunderts. Die Perspektive eines Nürnberger Kaufmanns hat mich ebenso fasziniert wie die Möglichkeit, die Entstehung des Textes im Detail nachverfolgen zu können. Heute sind drei Handschriften überliefert, anhand derer sich alle Korrekturen nachvollziehen lassen, die Tucher am Text vornahm, bevor dieser an den Drucker ging. Außerdem reiste Tucher nicht allein, sondern in Begleitung des Nürnberger Patriziers Sebald Rieter, dessen Familie auf eine lange Tradition von Pilgerfahrten zurückblicken konnte. Sebald verfasste einen Parallelbericht zur Reise und führte ein Rechnungsbuch, in dem er sämtliche Ausgaben der gemeinsamen Unternehmung akribisch festhielt. Diese ergänzenden Schriftstücke bereichern und erweitern Tuchers Perspektive auf bemerkenswerte Weise.

Romedio Schmitz-Esser: In meinem letzten Buch «Um 1500» beschäftigte ich mich besonders intensiv mit Albrecht Dürer und seinem Nürnberger Umfeld. Als Frau Wolff dann im Rahmen ihrer Dissertation an mich herantrat und mir die Idee einer Tagung zum Pilgerbericht des Hans Tucher vorschlug, war ich davon sofort begeistert. Das Handbuch ist eine zentrale Quelle für das spätmittelalterliche Reisen, und doch ist der Bericht vor allem aus kulturhistorischer Sicht noch nicht erschöpfend behandelt worden.

Abb. 2 Hans VI. Tucher, Reise in das Gelobte Land, Druckvorlage, um 1481/82 (Stadtarchiv Nürnberg, E29/III, 11)

Könnten Sie uns einen Überblick darüber geben, welche Themenbereiche und Fragen die Tagung besonders geprägt haben?

Romedio Schmitz-Esser: In der Tagung sind ganz unterschiedliche Aspekte angesprochen worden. Dazu gehörte zunächst einmal die Überlieferung selbst, aber auch der Reisebericht und die Rechnung der gemeinsamen Reise, die Sebald Rieter verfasste. Seine Aufzeichnungen wurden zwar nicht abgedruckt, aber von der Familie als Erinnerung an die besondere Fahrt aufbewahrt.

Alicia Wolff: Hans Tucher ergänzte seinen Reisebericht um zahlreiche praktische Anweisungen für Pilger, darunter eine Gesundheitslehre mit Rezepten für die Schiffsfahrt von Venedig ins Heilige Land. Wir beschäftigten uns mit Tuchers Darstellung des Mittelmeerraumes, seiner Beschreibung der Bauwerke Jerusalems sowie einem Stadtplan der Heiligen Stadt, der Sebald Rieter zugeschrieben wird. Besonders faszinierend ist eine Passage, in der Tucher die Grabeskirche in Jerusalem mit der Nürnberger Sebalduskirche vergleicht. Selbstverständlich war es auch unerlässlich, den Blick auf andere Pilgerberichte der Zeit zu richten und diese mit Tuchers Werk zu kontextualisieren. Besonders interessant waren die Parallelen zum Itinerarium des Nürnberger Humanisten Hieronymus Münzer und zum Evagatorium des Ulmer Dominikaners Felix Fabri. Tucher traf Fabri sogar nachweislich einige Jahre nach seiner Rückkehr in Nürnberg und überreichte ihm als Geschenk ein Mitbringsel von seiner Jerusalemreise.

Abb. 3 Vortrag von Dr. Antonia Landois auf der Tagung (Foto: Lisa Hauenstein)

Welche Rolle spielte die Zusammenarbeit verschiedener Fachrichtungen auf der Tagung? Haben sich aus interdisziplinären Ansätzen neue Erkenntnisse ergeben?

Romedio Schmitz-Esser: Für die Erforschung des Spätmittelalters ist eine interdisziplinäre Perspektive besonders gewinnbringend. Das gilt im Falle dieser Tagung insbesondere für die Bereiche der materiellen Kultur und die Kunstgeschichte. Mit dem Epitaph für Adelheid Tucher stand ein solcher Kunstgegenstand von Anfang an im Zentrum der Diskussionen. Bilder von Jerusalem, die Ausstattung von Pilgern, Pilgerzeichen, die man durch die Wallfahrten erlangen und zuhause stolz führen durfte, und Ausstattung von Kirchen durch die Familie Tucher – vor allem in St. Sebald – standen im Mittelpunkt der Überlegungen. Bei der Bearbeitung der Gesundheitslehre flossen medizingeschichtliche Perspektiven mit ein. Zudem wurde viel über architekturgeschichtliche Aspekte diskutiert.

Abb. 4 Wolfgang Katzheimer d.Ä. (Werkstatt), Epitaph für Adelheid Tucher, geb. Gundlach, um 1483 (Leihgabe der Tucher Kulturstiftung im Museum Tucherschloss und Hirsvogelsaal, Museen der Stadt Nürnberg, HI Gm 004)

Inwiefern kann der Reisebericht des Hans Tucher auch für ein breiteres Publikum außerhalb der akademischen Forschung von Interesse sein? Gibt es Inhalte, die besonders aktuell wirken?

Alicia Wolff: Wir befinden uns im Heiligen Jahr 2025 unter dem Motto „Pilger der Hoffnung“. Papst Franziskus gab am 24. Dezember 2024 den feierlichen Auftakt zum Jubeljahr, indem er die Heilige Pforte im Petersdom öffnete. Das Heilige Jahr wurde erstmals im Jahr 1300 ausgerufen und bot Christen die Möglichkeit, durch den Besuch der Heiligen Stadt einen vollkommenen Ablass von ihren zeitlichen Sündenstrafen zu erlangen. Die Pilgerschaft ist damals wie heute ein Phänomen, das Menschen berührt und verbindet. In diesem Jahr erwartet Rom rund 45 Millionen Pilger, die wie schon im Mittelalter den Weg dorthin auf sich nehmen, um sich die einzigartige Mischung aus Ablass, Abenteuer und Ehre nicht entgehen zu lassen. Angesichts dieser Entwicklungen könnte das Thema Pilgern kaum aktueller sein. Einen faszinierenden Einblick in alle Aspekte des Pilgerns um 1500 bietet das Handbuch von Hans Tucher.

Romedio Schmitz-Esser: Sein Bericht ist sehr lebendig und ermöglicht auch immer wieder sehr persönliche Einblicke in die Welt vor fünfhundert Jahren. Reiseberichte gehören ja überhaupt zu den lebendigsten Quellen, die wir aus dieser Zeit haben. Wer sich also für die Bedingungen der Reise oder die Wahrnehmung der Welt aus den Augen eines Nürnberger Patriziers des 15. Jahrhunderts interessiert, wird hier voll auf seine Kosten kommen. Sehr deutlich wird beim Lesen aber auch, was alles anders gedacht, gesehen und beschrieben wurde. Hier kommt der Unterschied in der Mentalität zwischen dem spätmittelalterlichen Kaufmann und unserer Gegenwart zum Tragen. Hier denke ich an die Reiserechnungen, die notorisch nicht aufgehen, die Veranlassung eines Neudrucks, wenn das eigene Amt im Nürnberger Rat nicht genannt wird, oder die Frömmigkeitsvorstellungen, die den konkreten Reliquien einen ganz zentralen Stellenwert beimessen. Man sieht, dass Reiseberichte immer auch viel über den Reisenden selbst erzählen; man reist bei einer Fernreise, so könnte man sagen, damals wie heute ja auch immer ein Stückweit zu sich selbst.

Gab es während der Tagung Momente oder Diskussionen, die Sie oder die Teilnehmer besonders inspiriert oder überrascht haben?

Romedio Schmitz-Esser: Eine ertragreiche Tagung ist immer voll von solchen kleinen und großen Aha-Momenten. Mich hat vielleicht am meisten inspiriert, dass sich in der Zusammenschau der Tagungsbeiträge auf einmal scheinbar banale, eher alltägliche Anmerkungen als ganz andere, bisher wenig beachtete und fremde Aspekte des Lebens vor fünfhundert Jahren entpuppen. So zeigt die schon erwähnte Reisekostenabrechnung Sebald Rieters, was alles an Material und Nahrungsmitteln für die Reise eingekauft und angeschafft wurde. Erst im Zusammenspiel mit den medizinischen Ratschlägen, die Hermann Schedel dem Hans Tucher mitgab, versteht man aber, dass es dabei auch um die konkrete Erhaltung der Gesundheit geht, denen diese Einkäufe recht unmittelbar verpflichtet waren. Das macht auch noch einmal deutlich, wie lange und unsicher der Weg auch aus der Sicht der Pilger gewesen ist – bei aller Abenteuerlust und letztlich schon sehr standardisierten Reisemöglichkeit über Venedig, ein Restrisiko blieb, und man sicherte sich dagegen gerne und so gut man es eben wusste ab. Ob das Fußwaschen den Pilgern dann tatsächlich ausreichende Gesundheit bescherte, weiß man zwar nicht; heil heimgekommen sind sie jedenfalls.

Alicia Wolff: Ich war begeistert von der aktiven Mitwirkung der Besucher der Tagung und der Offenheit der Nürnberger, uns ihre Stadt zu zeigen. Gemeinsam besuchten wir das Museum Tucherschloss, wo unter anderem ein Porträt von Hans Tucher sowie das prachtvolle Epitaph Adelheid Tuchers zu sehen sind. Nach der Tagung ging es weiter nach St. Sebald, wo wir eine Führung durch die ehemalige Ratskirche erhielten, in der noch heute viele Stiftungen von Patrizierfamilien an ihre Pilgerfahrten erinnern. Nach der glücklichen Rückkehr aus dem Heiligen Land stifteten Sebald und sein Bruder Peter gemeinsam das sogenannte Rieter-Fenster in der Kirche St. Lorenz. Darstellungen Jerusalems mussten dank zahlreicher Stiftungen heimgekehrter Pilger in den Kirchen der Stadt allgegenwärtig gewesen sein. Ihr Glanz lässt sich auch heute noch in Nürnberg nachvollziehen.

Abb. 5 Werkstattgemeinschaft Wolfgang Katzheimer / Meister L. Cz., Epitaph der Barbara Tucher mit Stifterbildnis des Hans Tucher und Pilgerabzeichen (Sebalduskirche Nürnberg, Foto: Virtuelles Museum, Theo Noll)

Welche Aspekte des Reiseberichts bleiben weiterhin offen oder besonders forschungswürdig? Gibt es Pläne für Folgeprojekte?

Romedio Schmitz-Esser: Besonders ertragreich schien mir die Einbettung des Berichts in den größeren, auch politischen Kontext. So konnte eine neue, bislang unbekannte diplomatische Mission Kaiser Friedrichs III. an den Hof des osmanischen Sultans auf der Tagung identifiziert werden. Da lohnt es sich, noch weiter nachzudenken. Auch die Publikation der Beiträge wird dazu einen wichtigen Teil beisteuern. Zudem wurde klar, wie wichtig das Nürnberger und generell das oberdeutsche Umfeld für die Reise, die Anfertigung und den Druck des Reiseberichts, aber auch für seine Rezeption gewesen ist. Auch hier werden sich weitere Forschungen lohnen.

Alicia Wolff:  Ich bin davon überzeugt, dass die Tagung bei allen noch einmal das Bewusstsein geschärft hat, dass die pragmatischen Beigaben zum Bericht letztlich das Erfolgsrezept von Tuchers Werk ausmachten. Die Schriftstücke sollten nicht nur als nebensächliche Ergänzungen betrachtet, sondern als elementarer Bestandteil des Berichts anerkannt werden.