Abb. 1 Brief von Lorenz Tucher aus Nördlingen an Linhart Tucher in Nürnberg vom 18.10.1533 (Stadtarchiv Nürnberg E 29/IV Nr. 437)

Wir leben in unsicheren Zeiten. Eine nach der anderen sicher geglaubten Konstante in Gesellschaft, Politik und sogar der Natur scheint wegzufallen und durch undurchschaubare Dynamiken ersetzt zu werden. Gleichzeitig beruht unser Leben auch weiterhin auf der Abfolge einer Vielzahl von Rhythmen und Zyklen: Kalender und Jahreszeiten strukturieren Jahre, der Alltag wird von Stundenplänen, Arbeitszeiten und Ferien bestimmt.

Wir neigen dazu, die Vergangenheit als stabiler und verlässlicher wahrzunehmen: Früher gab es mehr und verlässlichere Rhythmen als heute, und unser historisches Wissen suggeriert oft, dass historische Entwicklungen entweder unmerklich langsam oder vorhersehbar waren. Dabei übersehen wir aber, dass was im Rückblick wie eine klare Entwicklung scheint, von den Zeitgenossen ganz anders erlebt wurde. Verlässliche Rhythmen und Unsicherheiten bilden zu allen Zeiten und für verschiedene gesellschaftliche Gruppen unterschiedliche Konstellationen. Dieser Beitrag wirft einen Blick in die Tucher-Briefe aus der ersten Hälfte des 16. Jahrhunderts und diskutiert die Rolle und verschiedene Bedeutungen von Zeit in der Korrespondenz einer Handelsfirma.

 

Die Tuchersche Familienfirma und ihr Briefarchiv

Im 15. und 16. Jahrhundert führten verschiedene Mitglieder der Tucher-Familie Handelsfirmen. Besonders gut dokumentiert ist die Firma unter der Leitung von Linhart II. Tucher (1487–1568) und seinem Cousin Lorenz II. Tucher (1490–1554).

Abb. 2 Linhart II. Tucher, 1565 (Leihgabe der Tucher Kulturstiftung im Museum Tucherschloss und Hirsvogelsaal, Museen der Stadt Nürnberg)

Von Nürnberg aus leiteten sie Handelsgeschäfte, die sich über weite Teile Europas erstreckten. Dabei handelten sie mit so gut wie allem, mit dem sich Profit machen ließ: Gewürze, Metall und Metallprodukte, Tuche und vielem mehr. Dazu waren sowohl jüngere Familienmitglieder als auch Angestellte aus anderen Familien aus Nürnberg und der Umgebung in sogenannten Faktoreien positioniert: Niederlassungen an wichtigen Handelsorten wie Lyon und Antwerpen, wo Anweisungen aus Nürnberg umgesetzt wurden. Wir wissen außergewöhnlich viel über diesen Handel, da Hunderte von Briefen aus dieser Zeit überliefert sind – insgesamt mehr als 1750 Briefe, Abrechnungen und Notizen, von denen sich ungefähr die Hälfte auf den Handel beziehen.

Abb. 3 Lorenz II. Tucher, 1543 (Leihgabe der Tucher Kulturstiftung im Museum Tucherschloss und Hirsvogelsaal, Museen der Stadt Nürnberg)

Die meisten dieser Briefe waren an Linhart Tucher adressiert und stammen von Lorenz Tucher, weiteren Verwandten und Angestellten der Firma. Die Briefe enthielten Neuigkeiten zu geschäftlichen Themen, zu politischen Ereignissen, Seuchen, der Ausbildung jüngerer Familienmitglieder in Frankreich und Italien und schließlich persönlichen Themen. Neben reinen Berichten waren die Briefe auch ein wichtiges Planungsinstrument, indem Aufträge vermittelt und verschiedene Handlungsoptionen besprochen wurden.

 

Grundlegend: Datumsangaben

Abb. 4 Vinzenz Perckhamer aus Lyon an Linhart Tucher, 8. September 1531 (Stadtarchiv Nürnberg E 29/IV Nr. 1362)

Beginnen wir mit einem scheinbar trivialen Aspekt von Zeit: Datumsangaben. Die meisten Briefe beginnen mit einer Reihe von Daten. Im oben abgebildeten Beispiel nennt der Angestellte Vinzenz Perckhamer zunächst das Absendedatum in der Kopfzeile (gelb: 8. September 1531). Direkt auf die Begrüßung folgt das Absendedatum seines letzten Briefes (blau: 9. Juni/«zungo»). Darauf folgen die zwei Briefe, die er in der Zwischenzeit von Linhart Tucher erhalten hatte, jeweils mit dem darin genannten Absendedatum (hellgrün: 6. Juli/«luyo» und 7. August) und Eingangsdatum (dunkelgrün: 23. Juli und 19. August). Diese Übersicht war wichtig, um einerseits klarzustellen, worauf der jeweilige Brief antwortete. Für die Strecke zwischen Lyon, der wichtigsten Niederlassung der Tucher, und Nürnberg brauchte ein Bote etwa zwei Wochen (im Beispiel: 17 und 12 Tage). Das heißt, dass mindestens vier Wochen vergingen, bis man eine Reaktion auf einen Brief erwarten konnte – und das auch nur, wenn der Partner sofort antwortete und sich nicht ein paar Tage oder sogar Wochen Zeit ließ. Zweitens diente diese Übersicht der Überprüfung, ob der letzte Brief eines Schreibers auch angekommen war. Das war nicht nur wichtig, um herauszufinden, ob Informationsstand der Empfänger war. Die Übersicht half auch dabei, nachzuvollziehen, was mit einem verlorenen Brief geschehen war. Wenn ein Brief ohne offensichtlichen Grund verdächtig lange gebraucht hatte, konnte das ein Hinweis darauf sein, dass er in falsche Hände geraten war. So verdächtigen Linharts Söhne Christof und Gabriel einen Konkurrenten im Safranhandel, Willibald Imhoff, einen Brief für einige Tage behalten und vor allem geöffnet zu haben.

 

Rhythmen: Messen und Ernten

Abb. 5 Lyon cité opulente, située es confins de Bourgongne, Daulphiné, & Savoye, 1555 (Bibliothèque nationale de France, GED-25714 (RES))

Der Handel selbst war von regelmäßigen großen Messen bestimmt. Die wichtigsten Messen fanden in Lyon statt, und zwar vier Mal im Jahr für jeweils zwei Wochen. Diese Termine bestimmten das Geschäftsjahr: 1. Die sogenannte Paritzer mes – ihr Name bezieht sich auf Apparitio (Dreikönigstag) – ab dem Montag nach dem 6. Januar; 2. die Ostermesse ab dem 2. Montag nach Ostern; 3. die Augustmesse ab dem 4. August und schließlich die Allerheiligenmesse ab dem 3. November. Auf die eigentliche Handelsmesse folgte eine gesonderte Zahlungsmesse. Die Einkäufe auf der Handelsmesse wurden meist auf Kredit getätigt; auf der Zahlungsmesse wurden Zahlungen früherer Einkäufe durch die Erlöse aus Verkäufen bezahlt.

Einen weiteren regelmäßigen Ankerpunkt bildete die Safranernte in Frankreich und Spanien. Jeden Herbst kamen Safranhändler aus Spanien, Süddeutschland und Italien auf die zahlreichen lokalen Märkte und kauften den Safran direkt von den Bauern, so kostengünstig wie möglich. Dieser Safran wurden dann entweder auf den Lyoner Messen oder auf dem Nürnberger Safranmarkt verkauft und von dort aus zu großen Teilen weiter Richtung Osteuropa verschickt.

 

Dynamik: „Zeitungen“ und „Läufte“

Safran konnte hohe Gewinne bringen, aber auch ebenso hohe Verluste, denn die Preise schwankten extrem. Alle möglichen Ereignisse konnten die Nachfrage beeinflussen und den Preis plötzlich in die eine oder andere Richtung treiben. Dementsprechend wichtig war es, immer auf dem neuesten Stand zu sein – und das 16. Jahrhundert war alles andere als ereignisarm. Für Neuigkeiten benutzten die Tucher meist das Wort «Zeitung»: In diesem Sinne bezieht sich «Zeit» auf einzelne vergangene oder bevorstehende Ereignisse und ihre Konsequenzen für den Handel: Nachrichten über Konkurrenten, Preisentwicklungen, politische Ereignisse wie Schlachten, Friedensverhandlungen oder Hochzeiten und schließlich Seuchen. Die Zeit der Neuigkeiten ist nicht die Zeit der Rhythmen und des Wiederkehrenden, sondern die Zeit des Dynamischen und Unsicheren.

Abb. 6 Kopie eines Briefs Linhart Tuchers and Jacob Reuter vom 24. Februar 1545 (Stadtarchiv Nürnberg E 29/IV Nr. 389)

Ein weiterer wichtiger Begriff in diesem Zusammenhang ist das heute selten gewordene Wort «Läufte». Es bezieht sich auf eine Reihe zusammenhängender, unkontrollierbarer Ereignisse, die meist schwer vorhersehbar und oft nachteilig waren. Zum Beispiel schrieb Linhart Tucher am 24. Februar 1545 an seinen Angestellten Jacob Reuter: «Neuer Zeitung halben weiß ich dir dieser Zeit weder vom Reichstag noch von andern (Dingen) nichts Gründliches anzuzeigen, denn die Zeit und Läufte sind so veränderlich, dass nichts Verlässliches zu schreiben ist. Gott d(er) Allmächtig wolle füran alles zum Guten wenden.» Besonders oft erwähnten die Tucher «Kriegsläufte» und «Sterbläufte», also einen Ausbruch der Pest oder einer anderen tödlichen Seuche. Beide verweisen auf typische äußere Gefahren, die den Handel im Allgemeinen und das Leben einzelner ganz konkret bedrohten. Kriege und Seuchen bedeuteten einerseits große Unsicherheit, aber sie waren andererseits nicht unerwartet, sondern immer wiederkehrende Phänomene. Es klingt paradox, aber: Anders als im 21. Jahrhundert war im 16. Jahrhundert niemand überrascht, wenn der Alltag plötzlich auf den Kopf gestellt war.

 

Rechtzeitig handeln

Ständig schwankende Preise bedeuteten auch, dass die Tucher zur richtigen Zeit handeln mussten, um erfolgreich zu sein. Briefe mit Anweisungen oder Informationen mussten rechtzeitig ihr Ziel erreichen. Hier ging es vor allem um schnelle Informationsübermittlung, um einen günstigen Zeitpunkt überhaupt erkennen zu können und durch konkrete Anweisungen handlungsfähig zu sein.

Alle Firmenmitglieder waren in der Verantwortung, die Firmenleitung, andere Angestellte und Geschäftspartner schnellstmöglich über relevante Veränderungen zu informieren. Dementsprechend versprachen die Briefeschreiber fast schon phrasenhaft immer wieder, regelmäßig zu schreiben – und natürlich finden sich auch Beschwerden, dass ein Brief nicht rechtzeitig abgeschickt worden und damit Verluste versursacht worden seien. Den Transport der Briefe konnten die Tucher aber kaum kontrollieren, sodass die rechtzeitige Ankunft letztlich auch auf Hoffnung beruhte.

 

Langfristige Planung

Trotz der vielen Unsicherheiten und existenziellen Gefahren plante Linhart Tucher langfristig und systematisch. Alle seine Söhne und die meisten anderen männlichen Familienmitglieder wurden an verschiedene Orte zur Ausbildung geschickt, wo sie Französisch, zum Teil auch Italienisch und Spanisch lernten und für den Handel ausgebildet wurden. Dabei legte er unterschiedliche Schwerpunkte: Linhart Tuchers Söhne wurden auf den Safranhandel in Spanien spezialisiert, sein jüngerer Neffe Anthoni V. Tucher aber zunächst nach Antwerpen geschickt, um für den Pastellhandel ausgebildet zu werden. Sein ältester Sohn Paulus war der Einzige der Brüder, den er auch zur Universität schickte. An der noch jungen Universität Wittenberg wurde er unter anderem von Philipp Melanchthon unterrichtet und hörte einige Predigten von Martin Luther persönlich.

Abb. 7 Eine Kopie des Testaments Linhart Tuchers aus dem Jahr 1565 (Stadtarchiv Nürnberg E 29/VI Nr. 61)

So bereitete Linhart Tucher seine Nachfolge in der Firmenleitung strategisch vor, und in seinem Testament von 1565 legte er fest, welche seiner insgesamt fünf noch lebenden Söhne nach seinem Tod übernehmen sollten: Paulus (1524-1603), Gabriel (1526-1588) und Herdegen (1533-1614) erachtete er als geeignet, Sixtus (1528-1585) und Levinus (1537-1594) aber schloss er aus.

Auch externe Mitarbeiter versuchten sie möglichst langfristig zu binden: 1533 stellten sie zwei neue Mitarbeiter für jeweils zehn Jahre ein – und zwar inmitten eines Pestausbruchs, als ihrer beider Leben direkt bedroht waren und auch die Handelsaussichten durch Pest und Krieg nicht rosig waren. Im Idealfall blieben Mitarbeiter über Jahrzehnte und sogar Generationen hinweg in der Firma. Das klappte aber bei Weitem nicht immer, denn die Angestellten hatten auch eigene Pläne. Vinzenz Perckhamer beispielsweise stellte schon früh klar, dass er nicht ewig in einem Angestelltenverhältnis bleiben wollte – tatsächlich wurde er schließlich Partner in einer Augsburger Firma und heiratete in die städtische Elite ein.

 

Zum Schluss: Endzeiterwartungen

Man hat lange das Mittelalter als ein Zeitalter betrachtet, das in fast jeder Hinsicht vom direkt bevorstehenden Ende der Welt geprägt war. Das Gegenstück zum Mittelalter war die im Laufe des 16. Jahrhunderts erst nach und nach anbrechende Moderne, die offen und optimistisch in die Zukunft blickte. Dieses Bild hat sich in den letzten Jahren verändert: Zum einen hatten mittelalterliche Zukunftserwartungen mehr zu bieten als die Apokalypse, zum anderen zeigt gerade unsere Gegenwart, dass Endzeiterwartungen keineswegs ausschließlich mittelalterlich sind. Wie wir gesehen haben, hielt nicht einmal ein Pestausbruch die Tucher davon ab, viele Jahre in die Zukunft hinein zu planen. Das heißt aber nicht, dass ihnen apokalyptische Szenarien völlig fremd waren. Während Linhart und Lorenz Tucher Verträge für neue Angestellte aushandelten, berichtete Linharts achtzehnjährige Tochter Katharina ihrem Vater von «grausamen Zeichen», die in der Stadt Nördlingen gesehen seien worden und erklärte entschieden gegen andere Deutungen: «Ich glaube aber, es sind Zeichen des Jüngsten Tags, das lasse ich mir nicht ausreden.»

Im 16. Jahrhundert existierten verschiedene, auch widersprüchliche Zukunftsaussichten direkt nebeneinander, und das zumindest hat sich bis heute nicht geändert.

 

Dieser Beitrag entstand im Rahmen des Projektes «Back to the Future. Future Expectations and Actions in Late Medieval and Early Modern Europe, c.1400–c.1830», das vom «Horizon 2020»-Forschungsprogramm (Grant agreement no. 851053) der Europäischen Union gefördert wird.