Als der bürgerliche Georg Wilhelm Friedrich Hegel, geboren 1770 in Stuttgart, 1811 um die Hand der Patriziertochter Maria Helena Susanna von Tucher anhielt und sie aus Liebe in die Verbindung einwilligte, sorgte das für großes Aufsehen in Nürnberg. Hegel war bereits damals ein angesehener Philosoph. Heute gilt er vielen als der berühmteste Denker der Moderne. Mit Büchern über ihn lassen sich ganze Bibliotheken füllen.

Seine Frau Maria Helena Susanna, geborene von Tucher, ist dabei meist nur eine Randfigur. Von Familie und Freunden sowie von ihrem Gatten wurde sie ›Marie‹ genannt. Ihr Gatte wurde meist als ›Hegel‹ angesprochen. Als ›Wilhelm‹ unterschrieb er die Briefe an seine Liebste. Nur wenige an Marie Hegel adressierte Briefe und (noch weniger) von ihr selbst verfasste Schriftstücke haben sich bis heute erhalten. Doch wer war die Frau an der Seite des Meisterphilosophen? Dieser Beitrag bietet einen Einblick in das Leben der wenig bekannten Marie Hegel, geborene von Tucher.

Abb. 1 Porträt von Georg Wilhelm Friedrich Hegel von Hugo Bürkner (Bild: Wikimedia Commons)

Marie Hegel im BIBEL MUSEUM BAYERN

Die aktuelle Sonderausstellung im BIBEL MUSEUM BAYERN (24.10.2024–27.04.2025) beleuchtet die Gründung des bayerischen Centralbibelvereins, dem Trägerverein des heutigen Bibelmuseums, im frühen 19. Jahrhundert. In einer Zeit des Umbruchs, geprägt vom Übergang der einstigen Reichsstadt Nürnberg an das junge Königreich Bayern, versuchte eine kleine Gruppe von Menschen einen Verein zu gründen, um Arme und Bedürftige mit Bibeln versorgen zu können. Das Anliegen war nicht nur für die Vereinsgründer wichtig, sondern auch ein gesamtgesellschaftliches Projekt. Das zeigt sich darin, dass hinter dem Verein ein engmaschiges Netzwerk aus Mitgliedern stand, das sich quer durch die »höhere Gesellschaft« Nürnbergs zog. Dazu gehörte auch die Familie von Tucher.

Neben der Vereinsgründung beleuchtet die Ausstellung das Leben von sechs Personen. Diese geben einen lebendigen Einblick in die historischen und gesellschaftlichen Hintergründe der damaligen Zeit. Eine von ihnen ist Marie Hegel. Sie selbst war nicht direkt mit dem Verein assoziiert, wohnte 1824 – als der Verein endlich gegründet war – längst in Berlin. Ihre Mutter und zwei ihrer Brüder, Gottlieb und Sigmund von Tucher, waren jedoch von Beginn an Mitglieder, genauso wie zahlreiche Verwandte und Freunde der Familie.

Warum sie dennoch in der Ausstellung auftaucht? Der Grund ist die außergewöhnliche Liebesgeschichte, die damals wie heute berührt. Die Geschichte der Patriziertochter und des Philosophen illustriert den gesellschaftlichen Wandel, der sich nach den historischen Geschehnissen in der gehobenen Gesellschaft Nürnbergs vollzog. Ein Wandel hin zu einer durchlässigeren Gesellschaft, in der die Ehe zwischen einem gebildeten Bürgerlichen und einer Patriziertochter nicht nur möglich, sondern auch anerkannt war.

 

Die Liebe bringt den Stein ins Rollen

Im Frühjahr 1810 lernen sich Marie von Tucher und Hegel bei einer Gesellschaft kennen, wo Marie die Liebe, was sie ihrer Mutter berichtet, »wie der Blitz aus heiterem Himmel« trifft. Im April 1811 betreibt Wilhelm Hegel offiziell Brautwerbung. Er schwärmt bei Freunden von seiner Verehrten, schreibt, dass diese seine liebe Marie, würden sie sie nur kennenlernen, schnell liebgewinnen würden. Am 8. April hält er bei Maries Vater, Jobst Wilhelm Karl von Tucher, um Maries Hand an. Jobst genießt großes Ansehen, war er doch bis 1808 der letzte Bürgermeister Nürnbergs. In einer Art Stellungnahme, eine Leihgabe aus dem Stadtarchiv Nürnberg (Tucher‘sches Familienarchiv), die in der Ausstellung gezeigt wird, hält Jobst von Tucher dies fest.

Abb. 2 Stellungnahme aus der Feder von Jobst von Tucher über den Heiratsantrag Hegels (StAN E 29/II Nr. 372. Foto: V. Rehm)

Der Antrag Hegels sorgt für Furore in Nürnberg. Selten sei über eine Verbindung so viel verschieden geurteilt worden, wie über diese, stellt das Familienoberhaupt der einflussreichen Kaufmannsfamilie Paul Wolfgang Merkel fest. Der Grund? Die Patriziertochter ist damals gerade 20 Jahre alt, der bürgerliche Hegel ist gute 21 Jahre älter.  Seit 1808 ist er Direktor des Egidiengymnasiums in Nürnberg. Der namhafte Philosoph ist angesehen in der Stadt, aber er ist auch quasi mittellos und hat darüber hinaus einen unehelichen Sohn, der in Jena lebt. In Nürnberg ist Hegel gut vernetzt und pflegt zahlreiche gute Kontakte mit angesehenen Bürgern. Er ist beispielsweise mit dem vermögenden Paul Wolfgang Merkel eng befreundet. Merkel spricht bei seinem guten Freund Jobst von Tucher für Hegel vor. Jobst stellt seine eigenen Bedenken zurück und überlässt die Entscheidung über Hegels Antrag seiner Tochter – ihre Wahl ist ihm wichtiger.

 

Marie willigt ein

Noch im April geht Marie auf Hegels Brautwerbung ein. Im September 1811 geben sich die Liebenden das Ja-Wort. In den Briefen Hegels aus dieser Zeit spricht tiefe gegenseitige Zuneigung. Zugleich scheinen in ihnen bereits zwei wichtige Charakterzüge Maries auf, zum einen ihre religiöse Prägung und Frömmigkeit, zum anderen immer wiederkehrende Zweifel und Unsicherheiten, die ihr zukünftiger Gatte einfühlsam zu beschwichtigen sucht. Nach der Hochzeit ziehen die beiden in die Rektorenwohnung im Obergeschoss des Gymnasiums am Egidienberg, unweit von Maries Elternhaus.

Abb. 3 Das Schulgebäude des Egidiengymnasiums am Egidienplatz 5 (Foto: Antonie Bassing-Kontopidis)

Ihr erstes Kind stirbt 1812 kurz nach der Geburt. 1813 stirbt auch Jobst, Maries Vater, nach langer Krankheit. Doch es gibt auch gute Nachrichten: Im Juni 1813 wird der Sohn Karl Friedrich Wilhelm geboren, im September 1814 der zweite Sohn, Thomas Immanuel Christian. Marie und Hegel genießen schon in Nürnberg einen vielfältigen gesellschaftlichen Umgang und sind gerngesehene Gäste bei Gesellschaften.

 

Die treue Chronistin Susanna von Tucher

1816 erhält Hegel eine Professur in Heidelberg, die Familie siedelt dorthin über. Susanna von Tucher, Maries Mutter, hilft in den ersten Wochen. Nach der Abreise Susannas beginnt ein Briefwechsel mit ihrer Tochter, der bis zum Tod der Mutter nicht abreißt. Insgesamt 201 Briefe haben sich erhalten und befinden sich heute als Leihgabe der Tucher Kulturstiftung im Stadtarchiv Nürnberg. Fast alle sind von Susanna geschrieben. Sie sind die wichtigsten Zeugnisse über das Leben Maries. Das Wenige, das wir über Maries Innenleben, ihre Sorgen und Wünsche über die Jahre erfahren, erschließt sich hauptsächlich aus den fürsorglichen und bodenständigen Antworten ihrer Mutter. Diese verehrt ihren Schwiegersohn und liebt ihre ersten beiden Enkelkinder sehr.

 

Berlin

1818 erhält Hegel einen Ruf nach Berlin. Marie ist jetzt 27 Jahre alt, Hegel ist 48. Nach anfänglichen Schwierigkeiten lebt sich die Familie in Berlin schnell ein. Marie erleidet mehrfach Fehlgeburten, die sie körperlich und seelisch sehr mitnehmen, wie wir aus dem besorgten Briefwechsel zwischen ihrer Mutter und ihrem Gatten erfahren. Offenbar wünscht sie sich sehnlichst eine Tochter, doch ein weiteres Kind bleibt ihr verwehrt.

Die Eheleute erfreuen sich am kulturellen Leben der preußischen Residenzstadt, besuchen die Oper und zahlreiche Bälle, und geben selbst Gesellschaften. Hegel gilt als lebhafter Unterhalter, wird als »einfach, natürlich, liebenswürdig, gemütlich und voller Heiterkeit« beschrieben. Die bescheidene, besonnene, aber durchaus lebhafte Marie macht sich ebenfalls schnell Freunde und scheint das Leben in Gesellschaft zu genießen. Zwischenzeitlich ermahnt ihre Mutter sie sogar, es in Berlin nicht zu arg zu treiben.

 

Bei Hegels zuhause

Wilhelm Hegel arbeitet viel, Marie Hegel besorgt den Haushalt und die Kindererziehung. Eine große Rolle im Leben Maries spielen ihre Familie und ihre Kinder, um deren religiöse Erziehung sie sich stets bemüht. Das Leben im Hause Hegel ist einfach und bodenständig, die Beziehung zwischen Marie und ›ihrem Hegel‹ ist liebevoll und – meist – harmonisch. Doch die Berliner Jahre sind auch nicht einfach für das Paar: In zahlreichen Briefen beschwört Susanna ihre Tochter, sich mit ihren Sorgen an Hegel zu wenden oder ihre gute Lage mehr zu schätzen.

 

Wilhelm Hegels letzte Jahre

1830 mehren sich Sorgen über den gesundheitlichen Zustand beider Eheleute. Marie ist schon länger kränklich. Hegel ist seit einem Jahr Rektor der Friedrich-Wilhelms-Universität und damit auf dem Höhepunkt seiner Laufbahn angekommen. Aber er ist auch überarbeitet. Im Sommer 1831 berichtet Marie, dass sie mit ihrem geliebten Hegel »einen glücklichen Sommer« in einer freundlichen Gartenwohnung verbringe. Doch im Herbst 1831 wird er plötzlich schwer krank und stirbt am 14. November 1831.

Abb. 4 Das einzig überlieferte Porträt von Marie Hegel, geborene von Tucher, entstanden nach 1831, in Privatbesitz (Foto: Prof. Dr. Helmut Neuhaus)

Leben als Witwe

Und die 40-jährige Marie Hegel? Sie bleibt bis an ihr Lebensende 1855 in Berlin. Im Kreise der Freunde und Bekannten, Studenten und Verehrer Hegels wähnt sie sich dem Geist ihres Gatten am nächsten. Aus dieser Zeit ist wenig bekannt über die Witwe. Das liegt auch daran, dass ihre Mutter, Susanna von Tucher, 1832 stirbt. Bis zuletzt stehen die beiden in regem Briefverkehr. Quellen zu Marie Hegels Leben sind in der Folge Briefe von und an andere Familienmitglieder und Berichte ihrer Söhne.

Nach Auskunft ihres Sohnes Immanuel wendet sich die verwitwete Marie schließlich einer ausfüllenden Tätigkeit zu: der »Liebesarbeit unter den Armen«. Zu dieser kommt sie durch den Kontakt mit dem Pfarrer Johannes Evangelista Goßner. Er gründete 1837 das Berliner Elisabeth-Krankenhaus, wo Marie Hegel bis zu ihrem Tode unermüdlich tätig ist. Sie verausgabt sich dabei meist sehr. Geplagt von rheumatischen Schüben, ist sie oftmals bettlägerig. Trotzdem ist »ihre elastische Natur und frommes Herz«, wie Immanuel in seinen Memoiren schreibt, »beherrscht von einer unerschöpflichen Kraft christlicher Liebe. Dem Segen dieser teuren Mutter habe ich in meinem Leben menschlich das meiste zu verdanken.«

 

Des Pudels Kern

Das Bild, das ich im Zuge meiner Recherche zur Ausstellung von Marie Hegel gewonnen habe, zeichnet eine interessante, besonnene und beliebte Frau. In vielen Facetten spiegelt sich die von Immanuel als »elastisch« bezeichnete Natur der Professorengattin wider. ›Elastisch‹ vielleicht in dem Sinn, dass sich in Maries Brust auch widersprüchliche oder entgegengesetzte Eigenschaften vereinten. So wird sie als fromm und zu pietistischen Schwärmereien neigend beschrieben, doch auch als lebhaft und aufgeschlossen. Paul Wolfang Merkel beschrieb sie beispielsweise als »verständiges Frauenzimmer«. Christiane, die Schwester Hegels, bezeichnete sie als romantisch veranlagte junge Mutter und als »zarte, weiche Wachsblume«. Ein Grund für Ihr bisheriges »Schattendasein«, das sie bedauernswerterweise führt, mag sicherlich die außergewöhnliche Bedeutung ihres Gatten – und später auch ihrer Söhne – sein, doch mag es auch der Überlieferung geschuldet sein: Da der Großteil ihrer selbst verfassten Briefe fehlt, ergibt sich ein persönlicher Zugang zu ihrer Person vor allem durch die verschiedenen Stimmen ihrer Wegbegleiter. Diese zusammenzutragen gleicht einer wahren Spurensuche.

 


Noch mehr über Marie Hegel gibt es am 26. März, um 18 Uhr in einem Vortrag von Antonie Bassing-Kontopidis im Bibelmuseum zu erfahren. Wer mehr über Nürnberg und den bayerischen Centralbibelverein im 19. Jahrhundert wissen möchte, der kann noch bis zum 27. April die Ausstellung im BIBEL MUSEUM BAYERN besichtigen. An dieser Stelle möchte sich das Ausstellungsteam ganz herzlich für die Unterstützung durch die Tucher Kulturstiftung bei der Verwirklichung der Ausstellung bedanken.

Abb. 5 Ausstellung »Vitamin B! Bayern, Bibeln und Beziehungen« im BIBEL MUSEUM BAYERN (Foto: V. Rehm).