«Früher war mehr Lametta»? Auf jeden Fall! Betritt man heute die Sebalduskirche in Nürnberg, entsteht der Eindruck eines «mittelalterlichen» Kirchenraums. Dass dieses Bild ein Produkt zahlreicher Umgestaltungen und Wiederaufbau ist, wird auf den ersten Blick jedoch nicht sichtbar. In meiner durch das evangelische Studienwerk Villigst und die Tucher Kulturstiftung geförderten Doktorarbeit zur nachreformatorischen Nutzung und Ausstattung der Sebalduskirche in Nürnberg beschäftige ich mich mit diesen und anderen Fragen: Wie sah es in St. Sebald im 16. und 17. Jahrhundert aus? Was hat man mit dem meist aus dem Spätmittelalter stammenden Inventar nach der Reformation gemacht? Und wer hat das alles eigentlich bezahlt?
Mit diesem Beitrag möchte ich nicht nur über meine Forschung informieren und meine Begeisterung für diesen besonderen Ort teilen, sondern zukünftigen Bewerber:innen vermitteln, welchen umfangreichen Nutzen das Tucher-Fellowship am Germanischen Nationalmuseum für mich und meine Arbeit hatte.
Die «Tuchersche» Verbindung
Beginnen wir aber am Anfang. St. Sebald ist neben St. Lorenz eine der zwei großen Pfarrkirchen Nürnbergs. Dieses mit bestimmten Rechten in Verbindung stehende Privileg hat die Kirche seit dem ausgehenden 13. Jahrhundert. Mit diesem Status ist sie Hauptversammlungsort der Sebalder Gemeinde, vor allem aber auch Hauptrepräsentationsort des Nürnberger Patriziats. Aus dessen Mitgliedern rekrutierte sich der Nürnberg beherrschende Rat. Hier hatten die verschiedenen Familien, die sich selbst «Geschlechter» nannten, ihre Grabanlagen, die sie mit zahlreichen frommen Stiftungen bedachten. Mein Forschungsprojekt beschäftigt sich hauptsächlich mit einem dieser «Geschlechter» : der Familie Tucher.
Der Ort, an dem die Tucher ihre traditionelle Begräbnisstätte unterhielten, ist heute noch gut sichtbar im Sebalder Kirchenraum auszumachen. Im nördlichen Chorumgang, an der Stelle wo seit 1513 das große Epitaph für Dr. Lorenz Tucher von Hans Süß von Kulmbach seinen Platz findet. Als im letzten Drittel des 14. Jahrhunderts die romanische Doppelchoranlage einem gotischen Hallenchor weichen musste, begründete Berthold I. Tucher 1361 die Grabanlage der Familie, demnach bereits einige Jahre vor der Fertigstellung des Chores 1379. In jenem Jahr sicherte er sich die Rechte an einem repräsentativen Bestattungsort im neuen Sebalder Chor, wo auch weitere Patrizierfamilien in den folgenden Jahrzehnten die ihren anlegten. An diesem hochrepräsentativen – und frömmigkeitshistorisch äußerst relevanten – Ort hatten nur bestimmte Familien das Recht, ebenfalls prachtvolle Glasfenster zu stiften und damit ihren Ausstattungsbereich zu markieren. Die Relevanz des Chorraums leitet sich aus seiner Nutzung ab, denn hier stand bzw. steht der Hauptaltar. Und auch die als Reliquien verehrten Gebeine des Heiligen Sebaldus finden – übrigens noch heute – dort ihren Platz. Verbunden war das Anlegen dieser Begräbnisstätten mit der Finanzierung eines großen Glasfensters im entsprechenden Joch, das heute in ähnlicher Form dort zu sehen ist. Im weiteren Verlauf der Sebalder Geschichte wurde dieser «tuchersche» Ausstattungsbereich durch zahlreiche Zustiftungen anderer Familienmitglieder mit immer mehr dazugehörigem Inventar bedacht. Heute zeugen davon nur noch Teile des Glasfensters aus dem 14. Jahrhundert, das oben genannte Epitaph von 1513 und das barocke «Ewiglicht», an dessen Stelle schon der Sohn Berthold I. eine gotische Lampe finanzierte.
Gleich anderen Familien des Nürnberger Patriziats statteten die Tucher die Sebalduskirche mit zahlreichem Inventar aus. Stets verbunden war dies mit den eignen Erbbegräbnissen und frommen karitativen Stiftungen, die als Absicherung für das eigene Seelenheil gelten sollten. Prachtvolle Altaraufsätze, Gedächtnisbilder, Totenschilde, Kerzenstiftungen, Wandmalereien und Textilien schmückten St. Sebald und natürlich auch andere Kirchen. Wer sich dazu eingehend informieren möchte ist mit der umfassenden Habilitationsschrift «Die Sebalduskirche in Nürnberg: Bild und Gesellschaft im Zeitalter der Gotik und Renaissance» von Gerhard Weilandt (Universität Greifswald) aus dem Jahr 2007 bestens beraten, die sich mit der Ausstattung bis zur Aufstellung des Sebaldusgrabes 1519 beschäftigt.
Reformation und Umbruch – Die Forschung beginnt
Was passierte aber mit diesen Stiftungen nach der Einführung der Reformation 1525, als die «Neue Lehre» Einzug in Nürnbergs Kirchen hielt? Um diese Frage zu beantworten, ist vor allem intensive Archivarbeit nötig. Denn Informationen darüber, wie mit dem Inventar nach 1525 umgegangen wurde, können nicht vollständig aus dem heutigen Kirchenraum selbst abgeleitet werden. Daher müssen weitere Quellen, wie beispielsweise Kirchenbeschreibungen des 16. bis 19. Jahrhunderts, Urkunden, Rechnungen und andere Textdokumente, aber auch Druckgrafiken und Zeichnungen vergangener Jahrhunderte, die Ansichten des Kircheninnenraumes oder des Inventares zeigen, zur Bearbeitung herangezogen werden. Im Nürnberger Stadtarchiv, Staatsarchiv, dem Landeskirchlichen Archiv, dem Archiv des Germanischen Nationalmuseums und in den grafischen Sammlungen finden sich unzählige solcher Dokumente, die es aufzuarbeiten galt. Für mein Forschungsvorhaben war es insofern unabdingbar, vor Ort zu recherchieren.
Zu Beginn meiner Promotion hätte ich niemals erwartet, dass sich mir die Möglichkeit eröffnen würde, ein halbes Jahr in Nürnberg leben, forschen und in einen lebendigen Austausch treten zu können – doch genau dies hat mir das Tucher-Fellowship ermöglicht. Sicher, in Nürnberg zu leben wäre auch auf anderen Wegen möglich gewesen. Ein eigenes Büro in den Räumlichkeiten des Germanischen Nationalmuseums zu beziehen – dem größten kulturhistorischen Museum im deutschsprachigen Raum –, das Nutzen der kompletten Infrastruktur des GNM und der Tucher Kulturstiftung sowie Zugang zu den Museumsbeständen wären auf anderem Wege so gar nicht oder nicht in diesem Umfang machbar. Unter diesen Voraussetzungen war es mir möglich, innerhalb verhältnismäßig kurzer Zeit mein Forschungsthema durch wertvolle Informationen aus den Nürnberger Sammlungen und Archiven zu verdichten, Schlüsse zu ziehen und finale Ergebnisse zur erzielen.
Meine zentrale Erkenntnis
Mit Gründung der heute noch bestehenden Dr. Lorenz Tucher’schen Stiftung im Jahr 1503 vollzog sich ein schrittweiser Wandel der Ausstattungstradition. Dieser führte weg von der Anschaffung von auf Einzelpersonen oder bestimmte Familienzweige ausgerichteten Objekten hin zu einem kollektiven Familiengedächtnis. Unter diesen Gesichtspunkten muss die Forschung zur «tucherschen» Ausstattung neu gedacht werden. Anhand der nun von mir verfolgten Spuren war es möglich, die nachreformatorische Situation in der Sebalduskirche konkret aufzuarbeiten und einzuordnen und spannende Erkenntnisse bezüglich der Umnutzung vorreformatorischen Inventares in einer nun lutherischen Kirche zu gewinnen: So habe ich dem bekannten und vielbedachten Epitaph für Doktor Lorenz Tucher ein eigenes Kapitel in meiner Doktorarbeit gewidmet.
Die Dr. Lorenz Tucher´sche Stiftung kümmerte sich allerdings nicht nur um die «eignen» Objekte, sondern unterstützte auch gemeinschaftlich (also vom Rat und/oder der Sebalder Gemeinde) unternommene Finanzierungen mit teils großen Beträgen. Demnach hatte die Familienstiftung maßgeblichen Anteil an der sogenannten «Barockisierung» (nicht nur) der Sebalduskirche in der Mitte des 17. Jahrhunderts. Diese Umbauten, hier zu sehen auf einem Kupferstich von Johann Andreas Graff und Johann Ulrich von 1685 zeigen den Sebalder Kirchenraum nach den genannten Umgestaltungen. Heute ist es kaum noch vorstellbar, dass St. Sebald jemals so pompös ausgesehen hat. Aus dieser Zeit stammt noch der sog. «Muffelaltar», ein barocker Altaraufsatz, der heute im nördlichen Seitenschiff zu besichtigen ist und zumeist von den Besucher:innen übersehen wird, da er nicht in das «mittelalterlich» anmutende Bild der Kirche zu passen scheint. Dabei handelt es sich hier um ein Relikt aus der Zeit, in der die Sebalduskirche fast 150 Jahre lang im Glanz des Barocks erstrahlte. Vor den Zerstörungen des Zweiten Weltkrieges befand sich auch der dem «Muffelaltar» stark ähnelnde «Tucheraltar» nördlichen Chorumgang – in der unmittelbaren Umgebung des «tucherschen» Ausstattungsbereiches. Das Altarblatt von Matthäus Merian d. J. sowie der den Altaraufbau bekrönende «Schlangentreter» können noch heute im Museum Tucherschloss besichtigt werden.
Die auf dem Stich zu erkennende Barockausstattung geht zurück auf das Betreiben des damaligen Hauptpfarrers der Sebalduskirche, Johann Michael Dillherr sowie Kirchenpfleger Georg Imhoff, der wie die Tucher aus dem Nürnberger Patriziat stammte und als Schnittstelle zwischen Kirche und Rat in Erscheinung trat. Gleich dem Vorbild des 1640–1646 barockisierten Bamberger Domes sollte St. Sebald dem damaligen Zeitgeschmack entsprechend umgestaltet werden. Anders als in Bamberg wurden hier allerdings gerade aufgrund der Reformation zahlreiche spätmittelalterliche Objekte gewahrt und zum Teil neu kontextualisiert. Mit der Einführung der Reformation ging das Patronatsrecht an der Sebalduskirche auf den Rat der Stadt über, das in den vorherigen Jahrhunderten beim Bamberger Bischof lag (Nürnberg gehörte bis 1525 zur Diözese Bamberg). Vorreformatorische Stifterrechte wurden allerdings weiterhin gewahrt – was ein rigoroses Entfernen der spätmittelalterlichen Objekte nicht ohne weiteres möglich machte. Weiterhin sei erwähnt, dass ein Groß des Inventares von den Patrizierfamilien finanziert wurde, das heißt: von denselben Familien, die auch den Rat der Stadt stellten, der nun auch in Gänze die Organisation der Sebalduskirche innehatte. Dass dies kein nürnbergspezifisches Vorgehen darstellt, hat mein Doktorvater Arwed Arnulf (Göttingen/Berlin) bereits in zahlreichen Aufsätzen unter Beweis gestellt.
A perfect Match – Bewahren, Erforschen, Vermitteln
Durch die fast lückenlose Dokumentation der Ausgaben der Dr. Lorenz Tucher`schen Stiftung kann die Bedeutung des vor- und nachreformatorischen Inventares der verschiedenen Nürnberger Kirchen für «die Tucher» abgeleitet werden. Dies geschieht vor allem durch umfangreiche Rechnungsbücher oder auch das Anfertigen von Federzeichnungen, wie die aus den sogenannten «Tucherschen Monumenta», die unter anderem der Bestandsaufnahme dienten. Diese Bedeutsamkeit ist nicht nur verbunden mit einem gewissen antiquarischen Wert der Objekte, sondern vor allem mit der eigenen familiären Geschichte und Genealogie. Das Bewahren dieser Objekte ist somit Teil der eigenen Familiengeschichtsschreibung und zentrales Motiv des Repräsentationsbedürfnisses dieses Familienverbandes. Alter und Ehrwürdigkeit waren stets Antriebsfeder des Nürnberger Patriziats, vor allem zur Manifestierung von Machtverhältnissen. Inwieweit dies durch kirchliches Inventar geschieht, wurde für den Sebalder Kirchenraum bisher nicht umfassend untersucht – ein Privileg, das mir mit der Unterstützung der Tucher Kulturstiftung und den Mitarbeitenden des Germanischen Nationalmuseums zu Teil wurde.
Ich möchte an dieser Stelle, neben den rein wissenschaftlichen Vorteilen, auch die persönlichen nennen, die ich durch das Fellowship genießen durfte. Durch den engen Austausch mit Bernhard von Tucher und Florian Abe von der Tucher Kulturstiftung habe ich abgesehen von fachlichen Gesprächen auch persönliche Unterstützung erhalten. Neue Ideen und Erkenntnisse wurden stets ernstgenommen, konstruktiv begleitet und gemeinsam diskutiert. Besonders fruchtbar für meine persönliche Profilbildung als Wissenschaftlerin war auch das tiefe Verständnis für die Objekte und auch für die eigene Geschichte, sodass ich durch intensiven Austausch neue Ansätze entwickeln konnte. Durch die Vernetzung am Germanischen Nationalmuseum, dem Museum Tucherschloss und Hirsvogelsaal und der Sebalder Pfarrei sind wunderbare fachliche Kontakte, aber auch Freundschaften hervorgegangen, die mich hoffentlich weiterhin auf meinem Weg begleiten.