Die Tucher’schen Familienporträts
Der historische Fotografiebestand der Familie Tucher hatte wenig Beachtung erfahren, bis 2015 eine Stelle geschaffen wurde, um ihn zu verzeichnen und aufzuarbeiten. Während er heute in Pergaminhüllen und archivgerechten, säuregepufferten Kartonschachteln im Stadtarchiv Nürnberg aufbewahrt wird, begegnete mir das Korpus damals noch ungeordnet in Kisten und Tüten. Bei der Inventarisierung der Fotografien wurde mir schnell klar, dass eine genauere Betrachtung lohnend sein könnte. Während des Erfassens von Details wie Maßen und Hersteller und der Identifikation der abgebildeten Personen, traten faszinierende Einzelheiten zutage. Diese Beobachtungen legten den Grundstein für meine Masterarbeit zum Thema Porträtfotografie im 19. Jahrhundert am Beispiel der Familie Tucher im Fach Kunstgeschichte an der FAU Erlangen-Nürnberg im Jahr 2016.
Zusammensetzung
Die 868 Fotografien des Tucherbestands bilden eine Zeitspanne von den 1840er Jahren bis in die 1950er Jahre ab. Dabei stammen etwa drei Viertel der Fotografien aus dem 19. Jahrhundert, das übrige Viertel hauptsächlich aus dem beginnenden 20. Jahrhundert. Sowohl stilistisch als auch technisch offenbart der Bestand exemplarisch die vorherrschenden Trends in der Porträtfotografie dieser Zeit. Neben Porträts der Familienmitglieder finden sich auch weit entfernte Verwandte, Freunde, und Berühmtheiten der Zeit; außerdem vereinzelte Gebäude, Landschaften und Nutztiere, aber auch Hunde tauchen einige Male auf.
Neben lose zusammengestellten Fotografien befinden sich auch viele im strukturellen Zusammenhang von Fotoalben. Dabei bieten fünf prachtvoll eingebundene Fotoalben Raum für Fotografien im kleinen Visitenkarten- und größeren Kabinettformat. Ein besonders kunstvoll eingebundenes beinhaltet neben den vorgesehenen Fotografien im Kabinettformat aus seiner Entstehungszeit auch spätere Fotografien, die anderen Formatkonventionen entsprechen – es wurde wohl als wertvoller Besitz geschätzt und viele Jahrzehnte lang weiter verwendet.
Schmuckstücke im Kleinformat
Über Jahrhunderte wurden Bildnisse als Gemälde oder Grafik angefertigt. Im 18. Jahrhundert setzte sich für intime Porträts, die als Erinnerungsstück innerhalb der Familie, zwischen Liebenden oder Freunden verschenkt wurden, die Miniaturmalerei durch. Diese häufig ovalen Porträts maßen selten mehr als 10 cm und erlaubten so eine intimere Verbindung zum Betrachter als großformatige Repräsentationsgemälde. In kunstvollen Rahmen, die auch klappbar sein konnten, waren Miniaturen außerdem hochgradig transportabel.
Als Mitte des 19. Jahrhunderts die Fotografie weitere Verbreitung erfuhr und günstiger wurde, löste sie die Miniaturmalerei ab, übernahm aber zugleich einige ihrer Eigenheiten. Die zunächst prominente Daguerreotypie, die erste kommerzielle fotografische Methode, erzeugt Unikate, deren Rahmen häufig als Schatullen mit klappbarem Deckel ausgeführt wurden. Im Tucherbestand sind zwei Daguerreotypien aus den 1840er Jahren erhalten.
Mit ihrer silbrig-spiegelnden Oberfläche und den kunstvollen Rahmen wirken sie nicht weniger wertig als ihre Vorgänger der Miniaturmalerei; man spricht damals sogar von Daguerreotyp-Miniaturen.
Carte-de-Visite-Fotografie
In deutlich größerer Zahl – sie machen einen erheblichen Teil des Bestands aus – sind Carte-de-Visite- oder Visitenkarten-Fotografien vertreten. Mit etwa neun auf sechs Zentimetern Größe in hochrechteckiger oder hochovaler Form erinnert auch die Carte-de-Visite an die Miniaturmalerei früherer Zeiten, vom Unikatcharakter ist sie aber weit entfernt. Das neue Verfahren erlaubte es, mittels Spezialkameras eine Negativplatte achtmal zu belichten und so acht kleinformatige Fotografien in schneller Folge aufzunehmen. Aus diesem Grund finden sich auch zahlreiche Dubletten von Visitenkartenfotografien im Bestand. Von den größeren Kabinettkarten mit zehn auf 15 Zentimetern Größe sind viel weniger Exemplare vorhanden, da sie nicht wie die Visitenkarten in Serie geschossen wurden.
Motivisch blieb die Porträtfotografie den aus der Miniaturmalerei bekannten Konventionen verpflichtet. Zunächst waren starre sitzende oder ruhig stehende Positionen notwendig, damit die Modelle die langen Belichtungszeiten durchhielten. Die Belichtungszeit fiel erst in den 1840er Jahren unter eine Minute pro Bild, deshalb hielten Fotoateliers spezielle Vorrichtungen bereit, die hinter die Porträtierten gestellt wurden, um deren Köpfe zu fixieren. Besonders in Fotos von Kindern sind Gesichter und vor allem Augen oft verschwommen. Hier lässt sich auch der Wunsch nach Korrektur ablesen: die Pupillen sind schwarz nachgezeichnet.
Kabinettfotografie
Während die Visitenkartenfotografie im kleinen Format zumeist Einzelpersonen abbildet, seltener Paare und kaum mehrere Personen, eignet sich das größere Kabinettformat auch für Gruppenaufnahmen.
Das große Format von etwa zehn auf 15 Zentimetern Größe erlaubt es, auch bei Gruppen die Gesichtszüge der einzelnen dargestellten Personen noch deutlich zu erkennen. Deshalb wurden Fotografien dieses Formats nicht nur in Alben, sondern bevorzugt im Wohnraum zur Schau gestellt. Dass Fotoalben aber auch mit dem Aufkommen der Kabinettfotografie seit den 1860er Jahren nicht aus der Mode gerieten, zeigt eine Kabinettkarte aus dem Tucher-Bestand besonders anschaulich.
Eberhard von Welck wurde hier wohl auf einer Reise fotografiert –das Fotostudio hatte Filialen in Florenz, Rom, Turin und Paris. Trotzdem blättert er in einem Fotoalbum, auf dessen aufgeschlagenen Seiten deutlich Kabinettkarten zu erkennen sind. Höchstwahrscheinlich reiste er nicht mit Fotoalbum, sondern nutzte ein Requisit des Fotostudios. Als Attribut drückt das Fotoalbum eine Verbundenheit zur Familie aus. Besonders passend, da die rückseitige Widmung verrät, dass Eberhard von Welck das Bildnis seiner Schwester Gertrud schenkte.
Individualisierung im Bild
In den 1930er Jahren begann sich die kommerziell nutzbare Farbfotografie zu verbreiten. Davor waren Fotos grundsätzlich schwarz-weiß oder sepiafarben. Trotzdem wünschten sich auch im 19. Jahrhundert viele Kunden von Fotostudios Farbabbildungen, wie sie auch die künstlerischen Miniaturporträts früherer Zeiten boten. Vielerorts verschmolzen die Techniken und Fotografien wurden von den Studios handkoloriert. Von einer zarten Rötung der Wangen bis hin zur flächigen Übermalung war alles möglich. Im Porträt der drei Schwestern Susanna Maria, Helene Luise und Maria Franziska von Tucher liegt eine besonders kunstvolle Ausführung vor.
Während die Gesichter und Hände der Schwestern nur zartfarbig akzentuiert wurden, um sie lebendiger zu gestalten, befindet sich im Hintergrund eine besonders ausgesuchte Auftragsarbeit. In die Studiofotografie wurde eine Donaulandschaft mit Schloss Leitheim, das sich ab 1835 im Familienbesitz befand, gemalt.
Landschaftshintergründe waren ein Spezialgebiet des Fotostudios Paul Sigmund Cramer, von dem einige Visitenkartenfotografien mit Kulissen der Stadt Nürnberg erhalten sind.
Auch außergewöhnliche Requisiten und Kleidungsstücke, die von den Normen der Zeit abwichen, wurden zur individuellen Gestaltung des eigenen Porträts eingesetzt. In der Regel wurde das Fotostudio am Nachmittag aufgesucht, man trug also Tageskleidung. Manch einer erschien aber auch im Kostüm, wie hier die Brüder Wilhelm und Friedrich Fleischmann.
Andere kombinierten Kostüm und eigene Requisiten, wie Maximilian Joseph Friedrich von Tucher, der ein arabisches Kopftuch trägt und ein Gewehr in den Händen hält.
Waffen sind in der Visitenkartenfotografie höchst unübliche Requisiten, lediglich Soldaten lassen sich mit Schwert darstellen. Die sehr eigene Darstellung lässt ihn als abenteuerlustigen, weltgewandten Reisenden und Jäger wirken – ein Selbstbild, das er hier mittels seiner Requisiten in die Fotografie holt.
Vergangenheit und Zukunft
Obwohl die kommerzielle Porträtfotografie, insbesondere des 19. Jahrhunderts, immer wieder als formelhaft und wenig kreativ dargestellt wird, entfaltet sich mit Blick auf die Details erstaunlicher Charakter – sowohl im Bild als auch bei den dargestellten Personen. Das Fotografiekorpus der Familie Tucher bildet die wichtigsten Tendenzen und Trends in der Porträtfotografie ab. Zudem bietet es die noch ungenutzte Möglichkeit, ein Bild der fotografischen Industrie in Franken zu zeichnen.